Vergabepraxis 2025: DVNW-Regionalgruppe Dortmund zu Gast bei Baker Tilly

Vergabepraxis 2025: DVNW-Regionalgruppe Dortmund zu Gast bei Baker Tilly
  • 10.09.2025
  • Lesezeit 9 Minuten

Spannende Einblicke in die Vergabepraxis 2025: Die DVNW-Regionalgruppe Dortmund diskutierte bei Baker Tilly aktuelle Entwicklungen im Vergaberecht.

Die DVNW-Regionalgruppe Dortmund war am 4. September 2025 zu Gast bei Baker Tilly in Dortmund. Die Vertreterinnen und Vertreter öffentlicher Auftraggeber, der Wirtschaft und der Beratung diskutierten die aktuellen Veränderungen im Vergaberecht und deren praktische Folgen. Fachlicher Mittelpunkt war der Vortrag von Claas Stodollick, Vorsitzender der Vergabekammer Westfalen, zur Vergabedokumentation. Ergänzend stellte Dr. Christian Teuber die jüngsten gesetzgeberischen Entwicklungen vor – vom Vergabebeschleunigungsgesetz über die neuen kommunalen Vergabegrundsätze in Nordrhein-Westfalen bis zum europäischen Reformhorizont. 

Neben der Substanz der Inhalte war es ein ausgesprochen angenehmes Wiedersehen mit vielen geschätzten Kolleginnen und Kollegen; der persönliche Austausch trug sichtbar zum Gelingen der Veranstaltung bei.

Vergabedokumentation: rechtlicher Rahmen, Spruchpraxis und praktische Maßstäbe

Die Dokumentation eines Vergabeverfahrens ist kein „Beiwerk“, sondern der rote Faden, an dem sich Rechtmäßigkeit, Nachvollziehbarkeit und Bestandskraft eines Verfahrens messen lassen. Claas Stodollick hat die rechtliche Grundlage knapp und präzise verortet: Maßgeblich sind § 8 VgV, § 20 VOB/A (Abschnitt 1) und § 20 EU VOB/A (Abschnitt 2). Danach muss der öffentliche Auftraggeber von Beginn an fortlaufend in Textform (also nach § 126b BGB) dokumentieren, soweit dies für die Begründung der Entscheidungen auf jeder Stufe des Vergabeverfahrens erforderlich ist. Die Textform verlangt keine eigenhändige Unterschrift; der Urheber muss aber erkennbar sein. Änderungen sind zulässig, sofern die Nachvollziehbarkeit gewahrt bleibt; reines Überschreiben ohne Erkennbarkeit der Korrektur stellt einen Dokumentationsfehler dar.

Die inhaltliche Anforderung bemisst sich am Einzelfall. Routineentscheidungen können knapp begründet werden. Wo die Vergabestelle jedoch Beurteilungsspielräume nutzt oder vom gesetzlichen Regelfall abweicht, steigt der Begründungsbedarf. Typische Konstellationen sind die Abweichung vom Losgrundsatz, Dringlichkeitsvergaben, produktspezifische Ausschreibungen oder komplexe Eignungs- und Zuschlagsentscheidungen. In diesen Fällen muss die Dokumentation so detailliert sein, dass die maßgeblichen Erwägungen, die Datengrundlagen und die Abwägungsschritte für einen sachkundigen Dritten nachvollzogen werden können.

Die Rechtsfolgen von Dokumentationsmängeln sind gravierend. Fehlende oder unzureichende Dokumentation ist ein Verfahrensfehler. In der Spruchpraxis wird daraus regelmäßig abgeleitet, dass das Verfahren ab dem Zeitpunkt des Mangels zu wiederholen ist; bei schweren Mängeln kann die Aufhebung des Vergabeverfahrens die Folge sein. Das gilt insbesondere dort, wo tragende Erwägungen überhaupt nicht festgehalten wurden und deshalb nicht mehr nachgeholt werden können. Dem steht nicht entgegen, dass unbeachtliche Fehler im Nachprüfungsverfahren unter engen Voraussetzungen „geheilt“ werden können; entscheidend ist, dass die spätere Präzisierung in der bereits dokumentierten Grundentscheidung angelegt ist und nicht neue tragende Erwägungen „nachschiebt“. Zeitlich können Nachdokumentationen durch prozessuale Regeln begrenzt sein, etwa durch Präklusionsvorschriften und den Grundsatz der Entscheidung nach mündlicher Verhandlung in den Beschwerdeinstanzen. Diese Differenzierung erzeugt in der Praxis einen klaren Maßstab: „Dokumentieren, wenn entschieden wird – nicht erst, wenn gestritten wird.“

Besonders anschaulich waren die Fallbeispiele aus der jüngsten Rechtsprechung. Bei produktspezifischen Ausschreibungen genügt es nicht, pauschal auf „Kompatibilitätsfragen“ oder „Unterstützungsaufwand“ zu verweisen. Die Vergabestelle muss konkret darlegen, warum eine produktneutrale Ausschreibung unzumutbar wäre, welche funktionalen Risiken ein Systemwechsel mit sich bringt und weshalb der Mehraufwand den Wettbewerbseingriff rechtfertigt. Die Kammern gestehen bei Sicherheits- und Funktionsrisiken einen Gestaltungsspielraum zu, verlangen dafür aber eine substantielle, überprüfbare Begründung, die auch zeit- und kostenbezogene Auswirkungen beziffert.

Ähnlich strikt ist die Linie bei der Losbildung. Weil die Fachlosvergabe der gesetzliche Regelfall ist, muss eine Gesamtvergabe wirtschaftliche oder technische Gründe aufweisen, die über das Übliche hinausgehen und im konkreten Auftragsgegenstand angelegt sind. Allgemeine Koordinierungserwägungen genügen nicht. Wo die Vergabestelle eine Bauzeitverkürzung oder Qualitätsvorteile geltend macht, muss dies in Zahlen, Prozessen und Risiken unterlegt werden; fehlt eine solche Abwägung oder bleibt sie im Ungefähren, trägt die Dokumentation den Ausnahmecharakter nicht.

Für die Praxis lassen sich daraus klare Arbeitsschritte ableiten: Erstens ist zu Beginn des Verfahrens festzulegen, welcher Detaillierungsgrad im konkreten Projekt erforderlich ist und wer dokumentationsverantwortlich ist. Zweitens muss jede Abweichung vom Regelfall – Dringlichkeitsvergabe, Produktvorgabe, Gesamtvergabe – vorab mit konkreten Daten (Zeiten, Kosten, Risiken, Alternativen) unterlegt werden. Drittens sind Bewertungsentscheidungen so zu dokumentieren, dass die Einflussfaktoren, die Gewichtung, die Plausibilitätskontrollen und etwaige Rügebeiträge zeitnah nachvollzogen werden können. 

Vergabebeschleunigungsgesetz: Inhalte, Zielrichtung und praktische Konsequenzen

Im zweiten Schwerpunkt skizzierte Dr. Christian Teuber den Stand und die Stoßrichtung des Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung der Vergabe öffentlicher Aufträge. Der Entwurf bündelt eine Reihe von Anpassungen im GWB, in der VgV, der SektVO, der VSVgV, der KonzVgV sowie flankierend im HGrG, in der BHO und weiteren Vorschriften. Die Zielrichtung ist eindeutig: Verfahren verkürzen, Bürokratie reduzieren, Digitalisierung durchsetzen, Rechtsschutz straffen und den Mittelstand besser einbinden.

Ein Kernblock betrifft den Rechtsschutz. Die sofortige Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammer soll keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Praktisch bedeutet das: Nach der Kammerentscheidung kann der Zuschlag grundsätzlich erteilt werden. Parallel dazu werden Nachprüfungsverfahren digitalisiert – Kommunikation in Textform, elektronische Akten, digitale Akteneinsicht und Videokonferenzen werden zum Regelfall. Das beschleunigt Verfahren spürbar, verlangt aber auch digitale Verfahrensreife auf Seiten der Vergabekammern und Beteiligten.

Von großer Relevanz ist zudem die Eignungs- und Nachweisprüfung. Eigenerklärungen werden zum Standard; weitergehende Nachweise dürfen – außer in besonders begründeten Fällen – erst bei aussichtsreichen Bewerbern/Bietern eingefordert werden. Im offenen Verfahren soll die Angebotsprüfung vor der Eignungsprüfung erfolgen. Das reduziert den Nachweisaufwand merklich und erleichtert insbesondere KMU und Start-ups den Marktzugang. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Vergabestellen, frühzeitig stringente Ausschluss- und Bewertungslogiken zu definieren, damit die spätere Eignungsprüfung passgenau nachgezogen werden kann.

Der Entwurf stärkt weiter die Digitalisierung der Vergabeprozesse. Der „Datenservice Öffentlicher Einkauf“ wird zur zentralen Bekanntmachungsplattform; Fristen knüpfen künftig an das geplante Veröffentlichungsdatum an. Markterkundungen können ausdrücklich elektronisch durchgeführt werden; bei revisionssicheren eVergabe-Systemen kann auf das Vier-Augen-Prinzip verzichtet werden.

Das alles ist richtig – in der Umsetzung verlangt es klare IT-Prozesse, Rollenkonzepte und eine belastbare Nachvollziehbarkeit.

Für kleine Beschaffungen wird der Rahmen spürbar erleichtert. Auf Bundesebene soll die Direktauftragsgrenze auf 50.000 € angehoben werden; bis zu diesem Wert ist keine Abfrage des Wettbewerbsregisters und keine Vergabestatistikmeldung erforderlich. Für die Praxis bedeutet das eine echte Entlastung, etwa bei Beschaffungen in Schulen, verwaltungsnaher IT oder kurzfristigen Ersatzleistungen. Diese Erleichterungen ändern freilich nichts daran, dass Wirtschaftlichkeit und Marktpreis einzuhalten sind; auch Direktaufträge müssen sachlich begründet sein.

Ein weiterer Baustein ist die Flexibilisierung bei Großvorhaben. Für dringliche Infrastrukturprojekte aus dem Sondervermögen „Infrastruktur und Klimaneutralität“ sowie für sicherheits- und verteidigungsspezifische Beschaffungen (befristet) soll der Losgrundsatz ausnahmsweise zurücktreten dürfen, wenn der Auftragswert deutlich oberhalb der EU-Schwellenwerte liegt. Auftraggeber können Hauptauftragnehmer gleichzeitig verpflichten, KMU-Belange über Unteraufträge angemessen zu berücksichtigen. Diese Regelung zielt darauf, Zeiteffekte und Schnittstellenrisiken in komplexen Projekten zu reduzieren, ohne den Mittelstand vom Markt zu drängen.

Bemerkenswert ist schließlich die Neugewichtung zweier sensibler Themen: Zum einen erhalten Bundesregierung und Verordnungsgeber eine Ermächtigungsgrundlage für verbindliche Klimavorgaben in der Beschaffung. Das eröffnet die Möglichkeit, klimafreundliche Produkte und Verfahren systematisch durchzusetzen und so Marktsignale zu setzen. Zum anderen wird bei De-facto-Vergaben ein Absehen von der Unwirksamkeit vorgesehen, wenn zwingende Allgemeininteressen dies erfordern, etwa zur Sicherstellung kritischer Versorgung. In solchen Fällen sollen Geldbußen oder Laufzeitverkürzungen den Rechtsverstoß sanktionieren. Für die Praxis ist wichtig: Diese Ausnahmemöglichkeit ist kein Freibrief. Sie setzt eine sorgfältige Interessenabwägung voraus und ändert nichts an der Pflicht, Vergaben rechtskonform durchzuführen.

§ 75a GO NRW: neue kommunale Vergabegrundsätze und ihre Folgen

Mit dem am 10. Juli 2025 verkündeten Gesetzespaket in Nordrhein-Westfalen erhält das kommunale Vergaberecht eine neue Grundnorm: § 75a GO NRW tritt zum 1. Januar 2026 in Kraft. Die Vorschrift verankert allgemeine Vergabegrundsätze – Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit, Effizienz, Gleichbehandlung und Transparenz – ausdrücklich auch unterhalb der EU-Schwellenwerte. Zugleich werden sämtliche landesrechtlichen Wertgrenzen und Detailvorgaben aufgehoben. Künftig können Kommunen zusätzliche Vorgaben nur noch durch Satzung einführen.

Das ist ein Paradigmenwechsel. De facto erhalten Kommunen vergleichbare Spielräume wie ihre Eigengesellschaften in Privatrechtsform. Unterhalb der Schwellenwerte besteht kein Automatismus mehr zugunsten förmlicher Ausschreibungen; stattdessen tritt der Strategie- und Verantwortungscharakter der Vergabe in den Vordergrund. Diese Freiheit ist jedoch rechtsstaatlich gerahmt: Höher-rangiges Recht – GWB, EU-Richtlinienrecht, VgV-EU, SektVO-EU, KonzVgV-EU – bleibt unberührt; Art. 3 GG setzt strikte Gleichbehandlungsvorgaben. Bei Binnenmarktrelevanz gelten Transparenz- und Gleichbehandlungsgebote auch unterschwellig. Zudem können Tariftreue- und Vergabegesetze sowie Zuwendungsrecht faktisch dazu führen, dass Kommunen UVgO/VOB/A-Standards weiterhin einhalten müssen, wenn Förderbedingungen dies verlangen.

Für die Praxis heißt das: Kommunen sollten frühzeitig prüfen, ob sie eine kommunale Vergabesatzung beschließen wollen. Eine solche Satzung sollte Verfahrensarten, Wertgrenzen, Nachweisanforderungen, Dokumentationsstandards und Nachhaltigkeitskriterien in einem schlanken, handhabbaren Regelwerk definieren und mit dem Haushalts- und Konnexitätsrecht verzahnen.

Parallel sind Organisation, Prozesse und IT auf die neue Lage auszurichten: Wer künftig flexibel vergibt, benötigt klare interne Leitlinien, Checklisten und eine revisionssichere Dokumentation.

Fazit und Ausblick

Die Sitzung der DVNW-Regionalgruppe Dortmund hat zweierlei deutlich gemacht. Erstens: Die Vergabedokumentation entscheidet in vielen Verfahren über Bestandskraft und Qualität. Sie muss früh, fortlaufend und in der Sache tragfähig erfolgen; pauschale oder nachträglich konstruierte Begründungen genügen nicht. Zweitens: Die gesetzgeberischen Weichenstellungen – Vergabebeschleunigungsgesetz, Digitalisierung, Entlastungen bei Kleinvergaben, ESG-Ermächtigungen, Flexibilisierung bei Großvorhaben – verändern die Arbeitsweise der Vergabestellen spürbar. Mit § 75a GO NRW erhalten Kommunen zudem gestalterische Freiheit, die zugleich verantwortliche Ordnung verlangt.

Dass diese Themen nicht isoliert stehen, sondern auf europäische Reformen zulaufen, erhöht die Bedeutung des kollegialen Austauschs. Der exzellente Vortrag von Claas Stodollick zur Vergabedokumentation und der kompakte Überblick von Dr. Christian Teuber zu den Reforminhalten gaben hierfür die richtigen Impulse. Ebenso wichtig war das persönliche Wiedersehen mit bewährten Kolleginnen und Kollegen der Vergabepraxis – der offene Dialog bleibt die beste Grundlage für rechtssichere, effiziente und zukunftsfeste Beschaffung.

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Autor dieses Artikels

Dr. Christian Teuber

Partner

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht

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