Reise in Corona-Hochrisikogebiete führt im Krankheitsfall nicht grundsätzlich zum Verlust des Entgeltfortzahlungsanspruchs

  • 10.08.2022
  • Lesezeit 4 Minuten

Nach zum Teil zweijähriger Reiseabstinenz und aufgehobenen Einreisebeschränkungen lockt es seit Anfang des Jahres wieder viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Corona-Hochrisikogebiete oder Virusvariantengebiete – trotz weiterhin hoher Inzidenzwerte des COVID-19-Virus. Nicht selten werden Reiserückkehrer positiv auf Corona getestet. Bei einer Erkrankung an Corona, die im Zusammenhang mit der Urlaubsreise steht, stellt sich die Frage, ob die Erkrankung selbst verschuldet wurde und der Arbeitgeber somit von der Entgeltfortzahlung befreit ist. Das Arbeitsgericht Kiel hat dazu nun entschieden, dass die Erkrankung nicht im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) verschuldet wurde, sofern die Inzidenz im gleichen Zeitraum am Wohn- und Arbeitsort bzw. in Deutschland höher liegt. (Arbeitsgericht Kiel, Urteil vom 27.06.2022 – 5 Ca 229 f/22)

In dem, der Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel vom 27.06.2022, zugrundeliegenden Fall reiste die dreifach gegen COVID-19 geimpfte Klägerin während ihres Urlaubs im Januar/Februar 2022 in die Dominikanische Republik. Noch vor ihrer Abreise hatte das Robert Koch-Institut (RKI) die Urlaubsregion zum Hochrisikogebiet erklärt. Am Abreisetag der klagenden Arbeitnehmerin lag die Inzidenz in der Dominikanischen Republik bei 377,7, während der in Deutschland veröffentlichte Wert mit 878,9 signifikant höher war. Ungefähr eine Woche nach der Rückkehr der Arbeitnehmerin fiel die Inzidenz im Urlaubsgebiet auf 72,5, wohingegen der Inzidenzwert in Deutschland auf 1.465,4 anstieg. Aufgrund eines nach ihrer Rückkehr positiv ausfallenden Testergebnisses legte die Arbeitnehmerin ihrer Arbeitgeberin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) vor, deren Anerkennung die beklagte Arbeitgeberin verweigerte und während des angegebenen Zeitraums kein Entgelt zahlte. Die Beklagte führte an, die Klägerin habe ihr gegenüber geäußert, dass es ihr gut gehe. Mangels Symptomen sei die Arbeitnehmerin arbeitsfähig gewesen. Ferner sei die Erkrankung aufgrund der Reise in ein Hochrisikogebiet selbst verschuldet worden.

Das Arbeitsgericht Kiel hat der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage vollumfänglich stattgegeben. Ein Arbeitnehmer sei nach Auffassung des Gerichts auch dann arbeitsunfähig, wenn er ohne Symptome einen positiven Coronatest vorlegt und seine Arbeitsleistung nicht aus dem Homeoffice erbringen kann. Der hohe Beweiswert einer AUB werde durch die Information der Klägerin, dass es ihr gut gehe, nicht erschüttert. Und auch ein Entgeltfortzahlungsanspruch kann aufgrund der gegen die Klägerin angeordneten Quarantäne nicht ausgeschlossen werden.

Ferner stellte das Gericht fest, dass die Klägerin ihre Arbeitsunfähigkeit auch nicht selbst im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG verschuldet hat. Ein solches Verschulden setzt einen groben Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen voraus. Da die Inzidenzwerte im Urlaubsgebiet aber nicht deutlich über den Inzidenzwerten des Wohn- und Arbeitsortes bzw. der Bundesrepublik Deutschland lagen, wurde ein Verschulden der Klägerin abgelehnt. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Kiel geht eine Reise in ein Hochrisikogebiet in diesen Fällen nicht über das allgemeine Lebensrisiko hinaus.

Entschädigungsansprüche aus § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG wurden wegen mangelnder Anwendbarkeit aus Wertungsgesichtspunkten verneint.

Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Entscheidung ist die Berufung zum Landesarbeitsgericht zugelassen worden. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig und liegt bisher nur als Pressemitteilung vor.

Mein Praxistipp

Arbeitgeber sind im Falle einer vom Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerin selbst verschuldeten Erkrankung nicht immer zur Entgeltfortzahlung verpflichtet. Schuldhaft im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts handelt der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die, von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse, zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Auch wenn die Kategorie der Hochrisikogebiete mit Inkrafttreten der „Fünften Änderungsverordnung der Coronavirus-Einreiseverordnung“ am 01.06.2022 entfallen ist, kann angesichts steigender Infektionszahlen, eine Neuauflage der Regelung nicht ausgeschlossen werden. Dann würde sich die Frage des Verschuldens, ob Erkrankungen an COVID-19 nach einer Reise in ein Hochrisikogebiet aufgrund einer geringeren Inzidenz im gleichen Zeitraum am Wohn- und Arbeitsort bzw. in Deutschland als nicht selbst verschuldet gelten, erneut stellen.

Es bleibt abzuwarten, ob das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel der Berufung zum Landesarbeitsgericht standhalten und die Rechtsaufassung Bestand haben wird, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auch bei asymptomatischen Krankheitsverläufen von COVID-19 arbeitsunfähig sind. Dies wäre vor allem dann bedeutsam, wenn sie ihre Arbeitsleistung während dieses Zeitraums nicht aus dem Homeoffice erbringen können und Erkrankungen an COVID-19 nach einer Reise in ein Hochrisikogebiet, aufgrund einer geringeren Inzidenz im gleichen Zeitraum am Wohn- und Arbeitsort bzw. in Deutschland, als nicht selbst verschuldet bestätigt werden.

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