EuGH: Bestimmte Verstöße vor Massenentlassungen gewähren keinen Individualschutz

  • 13.07.2023
  • Lesezeit 5 Minuten

EuGH-Urteil zu Massenentlassungen: Die fehlende Übermittlung einer Abschrift der Betriebsratsunterrichtung an die Agentur für Arbeit gewährt keinen Individualschutz. Das ist erst einmal gut für Arbeitgeber. Die spannende Frage bleibt: Wie wird das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit dem Urteil verfahren?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am heutigen Tag entschieden (Rechtssache C-134/22), dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der Agentur für Arbeit in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen eine Abschrift zumindest bestimmter Bestandteile der schriftlichen Mitteilung, die er den Arbeitnehmervertretern (Betriebsräten) für Konsultationszwecke zuzuleiten hat, zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Die Übermittlung erfolgt nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken und soll der Agentur für Arbeit die Möglichkeit geben, sich auf eine Massenentlassung vorzubereiten. Daraus folgt, dass ausgesprochene Kündigungen bei einer unterlassenen Übermittlung nicht allein deswegen unwirksam sind.

Sachverhalt

Über das Vermögen der Arbeitgeberin wurde am 01.10.2019 das Insolvenzverfahren eröffnet und am 17.01.2020 beschlossen, die Geschäftstätigkeit der Arbeitgeberin bis spätestens 30.04.2020 vollständig einzustellen und Massenentlassungen vorzunehmen. Ebenfalls am 17.01.2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats eingeleitet. Im Rahmen dieser Konsultation wurden dem Betriebsrat die in der Richtlinie über Massenentlassungen genannten Informationen (Gründe der geplanten Entlassungen, Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer bzw. der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, Zeitraum der Entlassungen, Kriterien für Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer und Kriterien für Abfindungsberechnungen) mitgeteilt. Der zuständigen Agentur für Arbeit wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet. Am 22.02.2020 erklärte der Betriebsrat, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Am 23.01.2020 wurde der Entwurf der Massenentlassung der Agentur für Arbeit mitgeteilt. Anschließend beraumte diese Beratungstermine für die meisten der von den beabsichtigten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer an. Der klagende Mitarbeiter wurde am 28.01.2020 gekündigt. Im Rahmen seiner Klage machte er geltend, dass entgegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat vom 17.01.2020 übermittelt worden sei, obwohl dies eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Entlassung darstelle.

Das in der Revisionsinstanz mit der Rechtssache befasste Bundesarbeitsgericht (BAG) sieht in der unterbliebenen Übermittlung einen Verstoß gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der Unionsrichtlinie in nationales Recht. Weder die Richtlinie noch das nationale Recht sehe jedoch eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vor. Unter diesen Umständen äußert das BAG Zweifel, ob der Verstoß zwangsläufig zur Nichtigkeit einer Kündigung führt. Um zu klären, ob die fraglichen Vorschriften der Unionsrichtlinie den Zweck haben, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren, hat das BAG den EuGH im Wege der Vorabentscheidung angerufen.

EuGH verneint Individualschutz

Der EuGH hat die ihm vorgelegte Frage mit seinem Urteil vom 13.07.2023 (C-134/22; Pressemitteilung des EuGH v. 13.07.2023) verneint: Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Behörden in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen darüber mitzuteilen, hat nicht den Zweck, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Die Übermittlung der Informationen ermögliche es der Agentur für Arbeit nur, sich u. a. über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, einen Überblick zu verschaffen. Sie könne nicht vollständig auf die übermittelten Informationen vertrauen, um die bei einer Massenentlassung in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen vorzubereiten. Darüber hinaus habe die Agentur für Arbeit im Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat keine aktive Rolle. Sie sei lediglich Adressatin einer Abschrift bestimmter Bestandteile der fraglichen Mitteilung, im Gegensatz zu ihrer aktiven Rolle in späteren Abschnitten des Verfahrens. Im Übrigen setze die fragliche Übermittlung weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang, noch schaffe sie eine Verpflichtung für die Agentur für Arbeit.

Die Übermittlung erfolge nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die Agentur für Arbeit gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben könne. Die Verpflichtung, Informationen zu übermitteln, solle es ihr ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen später angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen könne. In Anbetracht des Zwecks dieser Informationsübermittlung und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolge, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtige, soll sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten.

Das BAG wird nun die Revision im vorliegenden Verfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückweisen und die ausgesprochene Kündigung nicht wegen der unterlassenen Übermittlung für unwirksam erklären. Weitere Unwirksamkeitsgründe sind nicht bekannt.

Fazit

Arbeitgeber können somit erst einmal aufatmen, da nicht jeder Verstoß gegen die strengen Vorgaben des Massenentlassungsverfahrens Individualschutz gewährt und somit zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.

Abzuwarten bleibt, ob das BAG das Urteil des EuGH nunmehr zum Anlass nimmt, die gesamte Rechtsprechung zu Massenentlassungen zu ändern. Das BAG muss entscheiden, ob es das Unionsrecht nur nachbilden oder sogar darüber hinausgehen möchte. Diverse weitere Verfahren zur Massenentlassung sind derzeit beim BAG anhängig.

Artikel teilen:

Autor dieses Artikels

Kerstin Weckert

Partner

Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Licencié en droit, Mag. iur.

Offene Fragen zu unseren Services?

Jetzt Kontakt aufnehmen

Kontakt aufnehmen