IV. Bedeutung für Unternehmensinsolvenzen
Zu beobachten ist bereits eine Trendwende bei den Unternehmensinsolvenzen. Lange Zeit sah es 2022 so aus, als verblieben die Insolvenzen auf dem historisch niedrigen Niveau, das seine Ursachen in den Corona-Hilfsmaßnahmen und der ausgelaufenen Aussetzung der Insolvenzantragspflicht hatte. Im Jahr 2021 sank die Zahl der Unternehmenspleiten mit rund 14.000 Fällen (2020: 16.300) auf einen Tiefstand. Auch noch zum Halbjahr 2022 hat sich dieser Befund nicht geändert (vgl. Abb. 1). Doch die Zahlen täuschen über den tatsächlichen Zustand der Unternehmen hinweg. Bedeutet das eine drohende Insolvenzwelle?
Österreich als Indikator der Entwicklung in Deutschland
Bemerkenswert ist der Blick zum österreichischen Insolvenzgeschehen. Hier hat bereits deutlich vor der deutschen Entwicklung eine Art Normalisierung auf Vorkrisenniveau stattgefunden. Wie viel wirtschaftlicher Sprengstoff dabei in der Entwicklung noch stecken könnte, zeigt eine Studie, die Creditreform Österreich gemeinsam mit Prof. Dr. Walter Schwaiger, Leiter des Forschungsbereichs Finanzwirtschaft und Controlling am Institut für Managementwissenschaften an der TU Wien, veröffentlicht hat. Untersucht wurde das Ausfallrisiko von Unternehmen nach der Definition von Basel III. Demnach gilt als ausfallgefährdet, wer mehr als 90 Tage im Zahlungsverzug ist beziehungsweise mit hoher Wahrscheinlichkeit seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen kann. Gemessen wurde dies anhand des Creditreform Bonitätsindex, bei dem ab einem Wert von 500 eine Forderung als ausgefallen gilt. Ab 600 liegen harte Negativmerkmale vor, sprich das Unternehmen befindet sich bereits in einem Insolvenzverfahren.
Insgesamt bewertet die Studie rund 5.700 Betriebe in Österreich als akut ausfallgefährdet. Es ist als noch ein großes Delta zu den im ersten und zweiten Quartal bereits eingetretenen Insolvenzen (2.429) vorhanden. Schwaiger und Creditreform analysierten auch die erwarteten und tatsächlichen Ausfallraten. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie getroffen wurden, gewirkt, beziehungsweise je nach Sichtweise das Insolvenzgeschehen verzerrt haben. Prognosen hatten für die Jahre 2020 und 2021 Ausfallraten von 1,88 Prozent und 1,21 Prozent erwartet. Tatsächlich realisiert haben sich 0,76 Prozent in 2020 und 0,81 Prozent in 2021. Die Differenz zwischen erwarteten und tatsächlich eingetretenen Ausfällen bezeichnen die Studienautoren als „Covid-19-Blase“.
Blick auf die Branchen in Österreich
Einen weiteren Hinweis darauf, wie sich die aktuelle Krisensituation auf die Stabilität der Unternehmen auswirkt, gibt ein Blick auf die betroffenen Branchen. Die Namen der Unternehmen, die in die Insolvenzstatistiken von Creditreform Eingang finden, stammen vor allem aus drei Bereichen: aus der Hotellerie und Gastronomie, etwa die Restaurantkette Burgerista; aus dem Handel, wie die Textil-Kette Ordia und die Outdoor-Firma Northland; und aus der Baubranche, wie das Holzbauunternehmen Scalahaus, die Tischlerei Sammer oder Bau Rosenberger. Aber auch unternehmensbezogene Dienstleister, deren Geschäft oft stark von Freiberuflern und Gewerbebetrieben abhängt, mussten deutlich häufiger Insolvenz anmelden. Hier könnte sich bereits ein Dominoeffekt abzeichnen. Ob er noch das Zeug zur Insolvenzwelle hat – oder im winterlichen Österreich zur Insolvenzlawine – werden die kommenden Monate zeigen.
Gerhard Weinhofer geht fest davon aus, dass die von der EZB im Juli eingeleitete Zinswende zu vermehrten Problemen bei der Kreditaufnahme und Refinanzierung führen wird. Viel hängt auch davon ab, ob Österreich in eine Stagflation oder gar eine leichte Rezession gerate. In jedem Fall wird der wirtschaftspolitische Erfahrungsschatz in Europa vor neue Herausforderungen gestellt.
„Zombies“ unter uns
Äquivalent dazu steigen bislang auch die Sanierungsverfahren mit und ohne Eigenverwaltung. Daraus lässt sich allerdings auch kein Trend erkennen, dass es zunächst zu einer deutlich erhöhten Zahl an Unternehmensliquidationen kommt. Die Handlungs- und Restrukturierungsfähigkeit unternehmerischer Wertschöpfung nimmt allerdings mit zunehmender Krisensituation ab. Hier zeichnet sich eine weitere Entwicklung ab, die wirtschaftlichen Sprengstoff enthält: Die „Covid-19-Blase“ wird ergänzt durch die hohe Anzahl an Unternehmen, die nicht in der Lage sind, ihre Kapitalkosten aus den operativen Ergebnissen zu bezahlen. Nach einer Definition der OECD handelt es sich bei solchen Unternehmen um „Zombies“, wenn es mehr als zehn Jahre besteht und seit mindestens drei Jahren nicht in der Lage ist die Zinsen für seine Finanzierung aus dem operativen Geschäft zu decken.
In der Restrukturierungspraxis ist (wieder) verstärkt zu beobachten, dass der unternehmerische Handlungsdruck zu spät entsteht. Die staatlichen Fördermittel zur Krisenbewältigung wirken für viele wie ein Betäubungsmittel, das den Blick auf die tatsächliche Lage versperrt. Der Handlungsspielraum sinkt aber äquivalent gegenläufig zum zunehmenden Handlungsdruck. Dadurch werden in den nächsten Jahren auch wieder Restrukturierungsfälle zunehmen, die auf gerichtliche Hilfe angewiesen sind.
V. Fazit: Normalisierung statt Welle
Der Vergleich mit Österreich zeigt, dass eine langsame Steigerung der Insolvenzverfahren ein realistisches Szenario ist. Das muss mittelfristig, auch in Österreich, nicht so bleiben. Aber zumindest zeigt es auf, dass eine Insolvenzwelle, oder in Österreich vielmehr eine Lawine, keine zwangsläufige Auflösungserscheinung des Insolvenzparadoxons sein muss. Gleichwohl scheint auch ein Restrukturierungsstau bei mittelständischen Unternehmen zu bestehen, die nicht oder nur unzureichend auf die aktuelle Poly- oder Permakrise reagiert haben. Viel vom unternehmerischen Bestand dürfte schon aufgebraucht sein. Es zeigt sich, dass die Resilienz vieler Unternehmen insbesondere in den gebeutelten Branchen Baugewerbe und Einzelhandel zunehmend bröckelt.