Neuregelung: weitreichende Änderungen im EU-Vertriebskartellrecht

  • 01.06.2022
  • Lesezeit 4 Minuten

Heute treten die neue Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) und die zugehörigen Vertikal-Leitlinien (Vertikal-LL) in Kraft. Die neuen Regeln gelten bis zum Jahr 2034. Ziel der Neuregelung ist, das EU-Kartellrecht für den Vertriebsbereich zu modernisieren und insbesondere die verschiedenen neuen Vertriebsformen zu erfassen - vorwiegend im Bereich E-Commerce. Was sind die wichtigsten Neuerungen, die es ab sofort zu beachten gilt? 

Besserer Schutz vor „aktiven Verkäufen“
Eine wesentliche Neuerung besteht darin, dass Anbieter Kundengruppen und Vertriebsgebiete besser vor „aktiven Verkäufen“ durch Dritte schützen können. Sie können diese beispielsweise bis zu fünf Abnehmern gleichzeitig zuweisen, was bisher nur mit einem Abnehmer möglich war.

Den aktiven Verkauf in andere Gebiete oder an andere Kunden kann der Anbieter künftig nicht mehr nur seinen direkten Abnehmern untersagen, sondern von ihnen auch einfordern, dass sie dies auch ihren Abnehmern auferlegen, sofern der Anbieter diese Kundengruppen oder Gebiete wiederum anderen Händlern zugewiesen oder sich selbst vorbehalten hat. Eine Weiterreichung des Verbots an noch weiter nachgelagerte Abnehmer ist jedoch nicht vorgesehen.

Besseren Schutz gibt es auch für Alleinvertriebsgebiete und selektive Vertriebssysteme. Werden – wie neuerdings zulässig – verschiedene Vertriebssysteme in verschiedenen Gebieten im Binnenmarkt eingerichtet, muss auch verhindert werden können, dass diese sich gegenseitig beeinträchtigen.

Neue Regeln für den Online-Vertrieb
Im Bereich des Online-Vertriebs werden Vereinbarungen mit Online-Vermittlungsdiensten (Online-Marktplätze, App Stores, etc.) als „vertikale Vereinbarungen“ eingeordnet und fallen damit in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO. Anbieter sind die Erbringer dieser Dienste und Abnehmer diejenigen, die sie in Anspruch nehmen. Die Freistellung gilt nicht, wenn der der Anbieter eine sog. „Hybridstellung“ hat, d.h. etwa neben dem Betrieb des Marktplatzes auch selbst im Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen tätig ist und somit mit den übrigen Händlern im Wettbewerb steht. Ob eine solche Hybridstellung vorliegt und welche konkreten Regeln gelten, ist aufgrund der vielfältigen Konstellationen im Einzelfall genau zu prüfen.

Vertragliche Vorgaben, die die effektive Nutzung des Internets für den Vertrieb von Vertragswaren oder -dienstleistungen beschränken sollen, gelten künftig ausdrücklich als verbotene Kernbeschränkung. Zulässig sind aber gewisse Beschränkungen im Online-Verkauf, etwa die Festlegung bestimmter Qualitätsanforderungen oder von Inhalten in der Online-Werbung.
Auch Verbote der Nutzung von Online-Marktplätzen sind grundsätzlich zulässig.

Klarstellungen bei der Preisgestaltung
Hier wurde das bislang geltende sog. „Äquivalenzprinzip“ aufgegeben. Dies ermöglicht es online und offline verschiedene Preise festzusetzen und sorgt für mehr Preisflexibilität. 

Klarheit gibt es auch bei der Bewertung von Preispflegemaßnahmen. Sog. Mindestpreisrichtlinien (MAP, Minimum Advertised Prices) werden als indirektes Mittel zur Anwendung einer Preisbindung der zweiten Hand eingestuft und sind weiterhin verboten. Anders werden hingegen Preismonitoring bzw. Preisreporting betrachtet. Diese sind nunmehr grundsätzlich erlaubt, da sie keine Preisbindung darstellen.

Informationsaustausch bei dualem Vertrieb, Wettbewerbsverbote und Erfüllung qualitativer Vorgaben 
Freigestellt bleibt der Informationsaustausch beim dualen Vertrieb, d.h. in den Fällen, in denen ein Anbieter zugleich auch auf der nachfolgenden Marktstufe als Händler tätig ist. Der Anbieter darf jedoch in keinem Fall mit dem Abnehmer um Kunden auf vorgelagerter Marktstufe konkurrieren. Erforderlich sind vorbehaltlich der Marktanteilsschwelle von 30 Prozent und bestimmter anderer Voraussetzungen zudem ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Durchführung der vertikalen Vereinbarung sowie produktions- oder vertriebsbezogene Effizienzgewinne.

Künftig ist es möglich, Wettbewerbsverbote zu vereinbaren, die sich über fünf Jahre hinaus stillschweigend verlängern. Dann muss es dem Abnehmer aber ermöglicht werden, dass er die Vereinbarung mit angemessener Kündigungsfrist und zu angemessenen Kosten wirksam neu aushandeln oder kündigen kann, um ihm den Wechsel zu einem anderen Lieferanten frei zu stellen.

Herstellern steht es auch künftig frei, die Belieferung von Händlern an die Erfüllung qualitativer Vorgaben oder quantitativer Voraussetzungen zu knüpfen, so vor allem das Erreichen bestimmter Mindestumsätze, oder auch Präsentationsformen für die Produkte vorzugeben.

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Autor dieses Artikels

Dr. Stefan Meßmer

Partner

Rechtsanwalt

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